Das Erbe der Kriegsenkel:
Was das Schweigen der Eltern mit uns macht

Matthias Lohre, Journalist – Autor – Mensch

Wir sehen nur, was wir zu sehen bereit sind …. Es ist genau dieser Satz, der durch seine einfache Klarheit bis in die tiefste Seelen-Pore des Lesers wirkt. Dem Journalisten Matthias Lohre ist mit seinem Buch „Das Erbe der Kriegsenkel: Was das Schweigen der Eltern mit uns macht“ ein aufrüttelndes Werk gelungen. Und plötzlich sind wir bereit, zu sehen ….

Das Cover
Bei einem Surf-Ausflug entdeckt: eine typische Szene aus einer Kindheit in den 60/70iger …

Manchmal surfe ich einfach so durch’s Netz. Auf der Suche nach „nichts Bestimmtem“, aber immer mit offenen Augen für das, was mich interessieren könnte …

Bei einem solchen Surf-Ausflug blieb ich bei einem Buch mit einem unscheinbar wirkenden Foto auf dem Cover hängen. Das Foto zeigte zwei Jungs mit den typischen Kleidern aus meiner Kindheit und ich dachte: „Hey…. der eine hat ein T-Shirt an, wie auch mein Bruder damals eines hatte!“ Und erst dann las ich den Buchtitel „Das Erbe der Kriegsenkel. Was das Schweigen der Eltern mit uns macht.“ …

Bingo! Interesse geweckt! Dieses „Schweigen der Eltern“ kenne ich aus eigener Erfahrung allzu gut. Und auch meine Kunden berichten mir davon. Von diesem unerträglichen Schweigen der Eltern. Ich bin einer der Coachs, der bei der Entwicklung von Führungskräften immer nach den Eltern fragt. Das irritiert mein Gegenüber, denn ich durchbreche mit meiner Frage ein Tabu. Wie kann ein Coach eine ca. 50jährige Führungskraft nur nach dessen Eltern fragen? Eigentlich gehört dieses Thema nicht in die Wirtschaft. Aber nur ‚eigentlich‘. In den allermeisten Fällen stoße ich nämlich in meinem Job auf das ‚Schweigen der Eltern‘ der Führungskräfte … und was es mit dem Menschen vor mir macht bzw. gemacht hat. Und wenn ich als Coach diese Thematik enttabuisiere und zumindest zum Teil bearbeiten kann, dann komme ich der Lösung für den offiziellen aber auch inoffiziellen Auftrag relativ nahe.

Das Cover des Buches setzt also 3 Identifikationspunkte für den Interessierten: (1) Ein typisches Bild aus unserer Kindheit (2) Das Schweigen der Eltern und (3)… was dieses mit uns gemacht hat.

Die Worte
In Ich-Form – reflektiert – gut lesbar – klar benennend!

In meiner Ausbildung zur systemischen Beraterin im Jahre 2010 am Institut für Familientherapie in Weinheim bin ich zum ersten Mal auf das Thema „Kriegsenkel“ gestoßen. Seither habe ich viel darüber gelesen. Die Übersichts-Literatur zu diesem Thema lässt sich m.E. grob in zwei Ansätze unterscheiden:

(1) Aufsätze aus der Forschung/Wissenschaft – sprich Literatur, die eben in der für Wissenschaftler typischen Sprache verfasst wurde und deswegen leider nicht immer leicht lesbar ist.

(2) Die Literatur von Journalisten wie z.B. Sabine Bode (Die vergessene Generation, Kriegsenkel, Nachkriegskinder, …) und die Hamburgerin Anne-Ev Ustorf mit (Buchvorstellung: Wir Kinder der Kriegskinder).

Das Buch von Matthias Lohre bildet in meinen Augen eine dritte Literaturgruppe. Literatur, die die eigene Biografie mit einer journalistischen Übersichts-Literatur kombiniert. Mir gefällt diese Herangehensweise extrem gut: Matthias Lohre –  der von Beruf Journalist ist – erarbeitet das Thema anhand seiner eigenen Biografie und bringt es so dem Leser nahe. Dass Lohre ein geübter Schreiber ist und weiß, wie man spannend formuliert, das macht das Buch von Anfang an faszinierend. Ich habe keine zwei Tage für das Lesen gebraucht. Sehr offen und systematisch, klar und differenziert beschreibt der Autor seinen Erkenntnisweg. Durch seine Art zu schreiben ermutigt er den Leser aktiv dazu, sich gute Frage zu stellen á la: „Wie war das eigentlich bei mir? In unserer Familie?

Matthias Lohre berichtet im Buch, dass er eine psychoanalytische Therapie gemacht hat. Ich finde, das zeigt sich stilistisch deutlich an vielen Stellen. Oft musste ich schmunzeln, weil ich mir – wenn es mir deutlich auffiel – überlegte, wie wir systemisch ausgebildeten Psychologen die Thematiken wohl beschrieben hätten.
Was ich mir durchaus vorstellen kann ist, dass diese psychoanalytischen Stellen für den einen oder anderen Leser zu viel werden und ihn deswegen abhängen könnten. Wenn dem so sei, so rufe ich diesen Lesern zu: „Haltet durch, nach kurzer Zeit ist der Autor wieder ganz bei sich und erzählt dann wieder aus seiner eigenen Perspektive mit seinen eigenen Worten“. Dann wird‘s wieder leicht lesbar und gut nachvollziehbar.

Der Inhalt
Sauber erarbeitet – gut strukturiert – nachvollziehbar …

Das Buch ist inhaltlich gut strukturiert und in nachvollziehbare Kapitel unterteilt, so dass man jederzeit nochmals gezielt nachlesen kann, ohne nochmals ganz von vorne anfangen zu müssen. Für mich persönlich ist das wichtig, da ich solche Bücher durchaus mehrfach lese. Nicht, weil ich die Inhalte vergessen habe, sondern weil es im wahren Leben Erkenntniszuwächse gibt, durch die die geschriebenen Worte eine andere Bedeutung erhalten. Wenn ich eine Inhaltsangabe für Lohres Buch abgeben müsste, dann würde diese wie folgt lauten:

  1. Sind unsere Eltern innerlich verletzt und wenn „ja“, woher kommen die Verletzungen?
  2. Vererben uns unsere Eltern ihre Verletzungen und wenn „ja“, wie?
  3. Wie beeinflusst uns dieses Erbe? Woran zeigt sich das?
  4. Und was mache ich jetzt damit? Was mache ich mit dem ganzen Wissen, das ich auf meinem Erkenntnisweg durch das Buch angesammelt habe?

Matthias Lohres Antwort auf meinen Punkt 4. lautet: „ … Wer versteht, was er wirklich braucht, kann, fürchtet und will, der kann sich und andere besser verstehen ...“ …. Oder wie ich es in meinem eigenen Buch schreibe: „Erkenntnisse klären, Handeln verändert!“.

3 bedeutsame Leitsätze
Was für mich wirklich wichtig ist im Buch

Eine typische Tanja-Marotte ist es, dass ich aus jedem Buch, das ich gelesen habe (und mir auch gefallen hat), 3 für mich bedeutsame Leitsätze herausarbeite. Das können konkrete Sätze aus dem Buch selbst, das können aber auch von mir persönlich formulierte Gedanken zum Buch sein. Folgende 3 Leitsätze sind es für Lohres Buch:

  1. Um den Einfluss des „psychischen Erbes“ unserer Eltern zu verstehen, ist es nicht nur wichtig zu wissen, WAS unsere Eltern erlebt haben, sondern auch WIE sie es erlebt haben. Paradox: oftmals wissen unsere Eltern selbst nicht, was sie uns da vererbt haben.
  2. Unsere Eltern krempelten die Ärmel hoch, um die äußeren Trümmer zu beseitigen. Die Beseitigung der seelischen Trümmer ist unsere Aufgabe, die Aufgabe der Kriegsenkel.
  3. Das Leid des einen löscht das Leid des anderen nicht aus. (S. 56)

Fakt ist aber auch, dass nur wenige Bücher mich vor eine solche Qual der Wahl gestellt haben. Das Buch ist voller bedeutsamer Impulse. ( 🙂 Deswegen auch die vielen Zettel…  )

Fazit

Wir sehen nur, was wir bereit sind zu sehen.“ (Matthias Lohre, S. 161) Wer das Buch liest, der weiß/spürt in der Regel schon, dass die Kindheit seiner Eltern etwas mit ihm und seinem eigenen Verhalten zu tun hat.

Für „Kriegsenkel-Thema-Erstleser“ eröffnet sich eine komplett neue Erkenntniswelt. Erkenntnisse, die weit über die von Trainern und Coaches üblichen propagierten Glaubenssätze hinausgehen. Aber auch für „Fortgeschrittene“ und „Experten“ bietet das Buch unzählige IMPULSE und Erkenntnisse. Was man mit diesen Erkenntnissen macht, das liegt selbstverständlich in der Verantwortung des einzelnen Lesers.

Kurz gesagt: Das Buch von Matthias Lohre ist eines der besten Bücher, das ich in den letzten Jahren gelesen habe. Eine klare Empfehlung für jeden, der unter der Oberfläche des Seins etwas spürt und wissen möchte, woher dieses „Spüren“ kommen könnte.

Das Erbe der Kriegsenkel: Was das Schweigen der Eltern mit uns macht
Lohre, Matthias: Das Erbe der Kriegsenkel. Was das Schweigen der Eltern mit uns macht. Verlag: Gütersloher Verlagshaus. München 2016. ISBN: 978-3-579-08636-1