Das Haus meiner Eltern hat viele Räume.
Vom Loslassen, Ausräumen und Bewahren.

Wie kann es uns gelingen, respektvoll Abschied vom Haus unserer Kindheit zu nehmen? Uns zu befreien von Dingen, die nicht zu uns gehören, aber Teil von uns sind? Dieser Frage geht die Autorin Ursula Ott in ihrem im btb-Verlag erschienen Buch Das Haus meiner Eltern hat viele Räume. Vom Loslassen, Ausräumen und Bewahren. nach. Ein Buch, das von mir eine 5-Sterne-Empfehlung bekommt!

 

Sag‘ mir, wie du schreibst – liebe Ursula Ott!

Stell‘ dir vor, du geht mit einer alten Freundin aus Kindheitstagen wandern. An einer erhabenen Stelle macht Ihr Rast. Ihr nehmt Platz auf einer Bank, deren Holz von den vielen Wettereinflüssen gezeichnet, aber auch geprägt ist. Unzählige Menschen vor dir haben auf dieser Bank schon gesessen und ihre Blicke in die Weite schweifen lassen. Manche von ihnen waren traurig, manche freudig. Einige waren verliebt. Schwer verliebt. Die eingeschnitzten Herzen mit den Initialen sind stumme Zeugen dieses Verliebtseins. Manche Blicke aber waren auch in sich gekehrt. Sie haben Themen gewälzt. Lebensthemen á la „Wenn’s draußen leise wird, dann wird’s innen ganz laut“.

Stell‘ dir nun weiter vor, dass du in dieser äußeren Stille zu sprechen beginnst. Mehr zu dir selbst als zu deiner Kindheitstagen-Freundin. Du sprichst über das Haus deiner Eltern. Über das Leben dort. In deiner Kindheit. In deiner Jugend. Und über die Lebensspuren, die es in dir hinterlassen hat. Und wie es dir ergangen ist, als dieses Haus nun verkauft wurde.

Genauso fühlt sich der Schreibstil der Autorin Ursula Ott in ihrem Buch Das Haus meiner Eltern hat viele Räume. Vom Loslassen, Ausräumen und Bewahren an. Es fühlt sich an, als ob zwei Freundinnen nebeneinander auf einer Bank sitzen und eine davon in Gedanken redet und die andere ihr zuhört. Ihr gerne zuhört und hin und wieder eine Impuls-Frage stellt. Diesen Schreibstil liebe ich. Er ähnelt dem meinigen in meinem Dudelsack-Buch und so habe ich das Buch mit seinen 149 Seiten in einem Rutsch gelesen. Okay, eigentlich sind es 188 Seiten. Aber der Rest ist für mich Anhang. Das wahrlich spannende befindet sich für mich im ersten Teil. Wohl gemerkt: für mich. Für dich kann das anders sein.

 

Sag‘ mir, wer du bist … liebe Ursula Ott!

Ursula steht wie ich in der Mitte des Lebens. Okay, ein klein wenig ist sie (wie ich auch) schon darüber hinweg. Zumindest wenn wir der Statistik und meinem Zollstock-Experiment Glauben schenken. Ihr wisst ja inzwischen: für uns Frauen aus der Generation der Babyboomer ist 82 die statistische Lebenserwartung. Ursula wurde 1963 in Ravensburg geboren. Das liegt bei mir um’s Eck. Zumindest gefühlt. Einzugsgebiet Bodensee, Schwaben. Sie ist Chefredakteurin des evangelischen Magazins Chrismon  und ihr Lebenslauf liest sich beeindruckend. Aber tatsächlich kommt es einer Erleichterung gleich, wenn du im Buch liest, dass auch sie mal ‚pleite‘ war, in größter finanzieller Not. Auch ich kenne das. Und du vielleicht auch. Und so hast du beim Lesen des Buches niemals nur annähernd das Gefühl, dass Ursula vom hohen Ross der wissenden Journalistin herab schreibt. Sie ist auf Augenhöhe mit dem Leser. Und schreibt über sich und ihre Erfahrungen. Und an diesen lässt sie uns teilhaben. Bringt uns in Dialog mit uns selbst. Wie ist’s bei mir? Wie wird es sein?

Auch Ursula gehört der Generation der Kriegsenkel an. Ihre Eltern waren zum Zeitpunkt des 2. Weltkrieges Kinder. Und diese Kinder haben ganz spezifische Erfahrungen gemacht, die sie über den sogenannten Generationentransfer an uns weitergegeben haben. Oftmals ohne es zu wissen. Ich nenne das ‚Unsichtbare Staffelstäbe‚. Und so kann man Ursulas Buch der Kriegsenkel-Literatur zuordnen. Allerdings eher der Einsteiger-Literatur, wie mein eigenes Buch auch. Aber auch für fortgeschrittene Leser zu diesem Thema ist das Buch lesenswert. Es sortiert unser bestehendes Wissen in den Kontext des endgültigen Abschiednehmens vom Elternhaus ein. Sie hat diese Erfahrung gemacht, die ich erst noch machen werde. Und dafür gibt sie uns kluge Gedanken mit auf den Weg.

 

 

Sag mir, was du von der Aussage „Alte Bäume verpflanzt man nicht“ hältst – liebe Ursula Ott!

Ursulas Mutter ist aus ihrem Haus ausgezogen. Dem Haus, in welchen sie gemeinsam mit ihrem Mann ihre zwei gemeinsamen Töchter hat aufwachsen sehen. Diese in ihrer Entwicklung begleitet und später dann in ihr eigenes Leben ‚entlassen‘ hat. Das Haus war am Schluss zu groß und sie mit 87 zu alt, um damit klar zu kommen. Aber sie ist nicht einfach so ausgezogen. Sondern erstmal für ein Jahr auf Probe. Was für eine revolutionäre Idee. Auf Probe für ein Jahr umziehen. Welche Erfahrungen Ursula und ihre Mutter gemacht haben? Ob sich der alte Baum im neuen Wald zurecht gefunden hat? Antwort:

„ … Der Baum braucht einfach ein bisschen Zeit. Er braucht Zuwendung, er braucht Luft und Nahrung – dann wächst er wieder. Vielleicht wachsen die Zweige nun in eine andere Richtung, weil die Sonne anders steht. Aber er gedeiht.  … Das Grün, es wirkt jetzt frischer!“. (S. 34/35)

Verständlich, dass Ursula von solch‘ alten Baum-Glaubenssätzen genervt ist. Ich übrigens auch. Als Kriegsenkelin mit massivster ostpreußischer Fluchterfahrung in der Familie weiß ich: ein Baum kann überall gedeihen. Und gleichzeitig vergisst er niemals seine Heimat. Du trägst sie in dir – auch wenn du niemals dort gewesen bist. Kommt noch … Zumindest bei mir.

 

Gib‘ mir kluge Tipps, liebe Ursula Ott!

Das ist warm, das macht mich glücklich, das will ich bewahren. Jenes ist kalt, es kann weg. (S. 50)“. Es sind Aussagen, wie diese, die mir helfen werden, wenn ich eines Tages vom Haus meiner Eltern und den Dingen in diesem Haus Abschied nehmen muss.

Ausräumen ist Schwerstarbeit für die Seele“, mit dieser Aussage trifft Ursula einen wesentlichen Punkt. Wenn wir ans Ausräumen denken, dann zumeist an die harte körperliche Arbeit. Auch ich habe den Umzug meiner Oma zu uns nach Süddeutschland gestemmt. 4,1 Tonnen (!) sind damals 1988 auf der Müllhalde im hessischen Dillenburg gelangt. Diese Zahl weiß ich nur noch, weil das Erlebnis für mich irgendwie traumatisch gewesen ist. Immer, wenn ich in die Müllhalde gefahren bin, bin ich samt meinem damaligen kleinen blauen Fiat Tipo gewogen worden. Und wieder, als ich das Gelände verlassen habe. Das Differenzgewicht musste ich am Schluss bezahlen. 4,1 Tonnen! … Mit jeder Fahrt baute sich eine Art Beziehung zum Müllhalden-Wächter (so nannte ich ihn damals liebevoll für mich) auf. Ich erzählte ihm vom Umzug meiner Oma und bei meiner letzten Fahrt fragte er mich: „Und in welchem der vielen Säcke liegt nun Ihre Oma?“ Makaber. Und trotzdem musste ich lachen. Humor hilft bei schweren Situationen. Und so gibt’s auch in Ursulas Buch einige Stellen, die zum Schmunzeln anregen.

Wenn ich heute noch die Gelegenheit hätte, dann würde ich mich gerne bei meiner Oma Frieda entschuldigen. Entschuldigen dafür, dass ich – ihre Enkelin – grob und unsensibel ihre Sachen einfach weggeschmissen habe. Zu Recht hat sie mich damals angespuckt. Ich habe sie nicht verstanden. Sie mich aber auch nicht. Wie auch? Entspringe ich doch einer komplett anderen Generation. Erst heute kann ich verstehen, was ich ihr mit meinem rabiaten Vorgehen angetan habe. Und so rät Ursula in ihrem Buch: Habt Respekt vor den Dingen Eurer Eltern (und auch Großeltern)! Auch wenn’s nicht immer leicht fällt.

Mein persönliches Fazit: Respekt vor dem Besitz der Eltern bedeutet Respekt vor sich selbst zu haben.

DANKE, liebe Ursula Ott für dieses wertvolle Buch. … übrigens: meine Mutter (Jahrgang 1939) hat mir dein Buch geschenkt. (Lies auch: Die Bücher meiner Mutter)

Eine glatte 5-Sterne-Bewertung und Empfehlung von mir!

 

PS – Postskriptum

Wie hast du den endgültigen Abschied – den Verkauf deines Elternhauses – gestaltet?
Welche Gefühle haben dich begleitet? Schuld? Wut? Angst? Ärger? Freude? …?
Was wollen dir diese Gefühle sagen? Und was müsstest du dann (noch) tun?

Und falls dir der Abschied noch bevorsteht: Wie hast du vor, ihn zu gestalten?

Und falls du in deinem Elternhaus wohnst, einziehen wirst, was auch immer: welchen Abschied gilt es hinzubekommen, damit das Haus „DEIN“ wird?

 

Denk‘ mal drüber nach …