Darf man mit 50 noch Springerstiefel tragen?

Straßenkind und obdachlos? Oder wieder nach Hause? Im Alter von 13 Jahren stand ich genau vor dieser Entscheidung. Ich war von zuhause abgehauen und wurde bundesweit gesucht.

Geschlagen und Misshandelt?

Wenn ich heute gefragt werde, warum ich von zuhause weggelaufen bin, so kann ich nur mit den Achseln zucken. Ich wurde nicht geschlagen, nicht misshandelt. Weder psychisch, noch physisch. Obwohl das bei einigen meiner Gleichaltrigen durchaus auf der Tagesordnung stand. Ich erinnere mich an das späte Geständnis eines Bekannten, der mir im Alter von 40 innerlich tief verletzt in die Augen schaute und zu mir sagte: „Tanja, Du weißt doch überhaupt nicht, wie es ist, wenn Du von Deinem eigenen Vater grün und blau geschlagen wirst. Ich habe mich deswegen niemals ins Freibad getraut. Und deswegen hatte ich auch im Sportunterricht immer langärmelige Shirts an – egal wie sehr ich geschwitzt und gestunken habe. Wir mussten zuhause auf einer harten Matratze auf dem Boden schlafen. Ohne Laken, von einem Bettbezug ganz zu schweigen …“

Ausbruch aus einer behüteten Kindheit

Nein, so etwas habe ich nie erlebt. Und dafür bin ich auch sehr dankbar. Ich hatte eine überbehütete Kindheit. Äußerlich fehlte es mir an nichts. Ich hatte tolle Kleidung und auch ein schönes Zimmer für mich alleine. Aber ich durfte nur wenig. Ich fühlte mich zuhause irgendwie immer beengt und wollte schon früh weg. Mit 13 schrieb ich dann meinen Eltern einen Abschiedsbrief „Auch Kinder brauchen mal Urlaub von den Eltern …“ und so machte ich mich heimlich auf eine abenteuerliche und zum Teil haarsträubende Reise durch Deutschland. Was ich alles erlebt habe, das steht auf einem anderen Blatt. An vieles erinnere ich mich auch nicht mehr. Was sich aber tief in mein Herz eingegraben hat, das war die Begegnung mit einem obdachlosen Mädchen auf dem Stachus in München. Sie lebte bereits über ein Jahr auf der Straße. Ihre Haare und ihre Kleidung sahen ziemlich provokant aus und schüchterten mich ein. Ein echter Punker eben mit einer Ratte auf der Schulter. Noch heute sehe ich genau ihre schwarzen Springerstiefel vor mir. Staubig und ausgelatscht. Ein Symbol ihrer Freiheit. Ein Symbol Ihres Trotzes. Ein Symbol ihrer eigenen Stils. Ihres eigenen Weges. Daneben kam ich mir in meiner inzwischen angeschmuddelten Popper-Aufmachung albern und wie eine wohlbehütete rote Rose vor. Ich spürte, dass ich niemals ein ‚richtiges‘ Straßenkind werden würde. Zu weit lagen unsere Erlebenswelten auseinander. Aber Freiheit, das wollte ich schon.

Symbole der Freiheit

In meinem Buch habe ich den Dudelsack als mein persönliches Symbol der Freiheit bezeichnet. Der Dudelsack ist meine Metapher dafür, die Dinge im Leben zu tun, die ich schon immer tun wollte. Ohne schlechtes Gewissen. Ohne mir die Frage zu stellen, was andere dazu sagen könnten. Und neulich war es dann wieder soweit. Ich bin wieder auf ein solches Freiheits-Symbol gestoßen. Während ich im Internet für mein neues Buch recherchierte, stieß ich auf Springerstiefel von Doc Martens. Und ich wusste sofort, ohne auch darüber nur einen Bruchteil einer Sekunde nachdenken zu müssen, dass ich diese Stiefel unbedingt haben wollte. Ich erinnerte mich plötzlich wieder an die Begegnung mit dem Mädchen am Stachus und wusste: Ich will diese Springerstiefel! Egal was andere dazu sagen und ob ihrer Meinung nach knapp 50jährige zu alt für Springerstiefel sind. Für mich sind es genau die richtigen…. und wisst Ihr was? Ich finde es mega, dass es kein „Entweder-oder“ ist, sondern dass ich zeitgleich mit den Springerstiefln auch meine wohlbehütete „Rote-Rosen-Herkunft“ zeigen darf.

PS – Post Skriptum

Es gibt viele Symbole der Freiheit. Wenn Sie an Ihre Kindheit oder an Ihre Jugend denken: was bedeutete für Sie damals Freiheit? Stimmt er noch immer? Oder aber wie lässt sich der Wunsch von damals auf heute übersetzen?

Denk‘ mal drüber nach ….