Wie unfassbar rücksichtslos!

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Charakter:   Blogbeitrag zur Sendung Sag mal Tanja!? am 01.10.2020 auf antenne 1 Neckarburg Rock & Pop
Nutzen:        Komm deinen Ärger über Nichtigkeiten auf die Spur

 

Wie unfassbar rücksichtslos!

Wie oft habe ich meine Eltern schon über andere Menschen schimpfen gehört. Über Menschen, die keinerlei Rücksicht auf den entgegenkommenden Fußgänger-Verkehr nehmen. Die einfach so auf ihrer Spur bleiben, ohne auch nur ein Quäntchen Platz zu machen. „Der denkt wohl, der Gehweg gehört im alleine!“

Ausweichen und schlängeln? … Oder provokant die Spur halten?

Und auch ich. Auch ich ärgere mich ziemlich oft über ein solches Fußgänger-Verhalten. Rücksichtslos! Depp! Scheinbar elegant schlängle ich mich oft durch den entgegenkommenden Menschenstrom. Immer mit einem bestimmten Maß an Empörung und Genervtheit … und einem Gefühl von „Ich bin der bessere Mensch!“ ( … weil: ach doch soooo rücksichtsvoll!)
Manchmal aber halte ich auch provokativ meine Spur. Und damit ecke ich an. Weil der Zusammenstoß in den allermeisten Fällen unweigerlich erfolgt. Die entgegenkommende Person mich anrempelt oder gerade noch zur Seite springen kann und mich eventuell sogar als ‚rücksichtslos‘ beschimpft. Und dann ärgere ich mich noch mehr. Ich, diejenige, die doch gefühlt auf alles und jeden Rücksicht nimmt!

Woher kommt mein Ärger?

Warum ärgere ich mich eigentlich darüber, während viele meiner Freundinnen das Verhalten der Fußgänger überhaupt nicht berührt? Warum gelingt es mir nicht, das Ganze gelassen zu sehen? Warum ärgert es mich nur so? Und warum ärgert es eigentlich meine Eltern? Warum gehen sie immer aus dem Weg? Warum weichen sie aus? Warum ist das eigentlich bei uns so ein Riesenthema, obwohl es doch nicht wirklich wichtig ist? Schon gar nicht angesichts der weltpolitischen Lage …

Flüchtlinge gehen gerne aus dem Weg …

Meine Eltern sind sogenannte Kriegskinder. Geboren im 2.ten Weltkrieg. Flüchtlinge. Meine Mutter kommt aus Ostpreußen. Mein Vater flüchtete aus der Großstadt Düsseldorf in die schwäbische Pampa. Beiden Kindern hat man Tag für Tag eingetrichtert: „ … Steh‘ da nicht im Weg rum! Geh‘ zur Seite! Ecke bloß nicht an! Wir sind auf die Gunst der anderen angewiesen! Geh‘ bloß zur Seite, bevor es Ärger gibt! Bevor …“ Ja bevor was eigentlich….?

Und so nehmen meine Eltern seit frühester Kindheit Rücksicht auf andere. Schlängeln sich irgendwie durch. Bloß nicht anecken. Und das Durchschlängeln hat mit dem Erwachsensein nicht aufgehört. Aber das Meckern ist dazu gekommen. „Der denkt wohl, der Gehweg gehört ihm!“ Und wenn meine Eltern sich dann mal solchen rücksichtslosen Fußgängern provokant in den Weg stellen und sich den Weg nehmen, dann fühlt es sich für meine Eltern auch nicht gut an. …   Weil? ….Naja – auch meinen Eltern ist klar: eigentlich ist diese Person ahnungslos, um was es geht. Je nach eigener Herkunftsgeschichte geht derjenige dann aus dem Weg: die einen maulend, die einen irritiert, die anderen wiederum sich sofort wieder ins Gespräch mit dem Partner vertiefend – die Situation nicht weiter beachtend – weil? Bedeutungslos für sie…

Doch wie auch immer die Begegnung ausgeht: meine Eltern sind ob so oder so nicht wirklich zufrieden. Mehr noch: irgendwie haben sie dabei ein schlechtes Gefühl. Irgendwas, was sich nach ‚Schuld‘ anfühlt.

Und was hat das mit heute und meinem Beruf zu tun?

Meine Eltern haben mir unbewusst dieses Rücksicht-nehmen-und-ausweichen-Verhalten mit auf den Weg gegeben. Man nennt das Generationentransfer. Früher habe ich von Kollegen immer irgendwie schweigend erwartet, dass sie doch jetzt eigentlich erkennen müssten, dass ihr Verhalten gerade schwierig für mich ist. Mich bremst und zu Umwegen zwingt. Haben sie aber nicht. Und so habe ich meine Ziele zwar immer verfolgt, aber nie auf einem direkten Weg. Ich habe mich durchgeschlängelt, an den Menschen vorbei. Und habe über diese gemeckert. Wie meine Eltern über die Fußgänger. In meinen Coachings berichten mir Führungskräfte oft von ähnlichen Erfahrungen. Wenn ich nach der Herkunft der Eltern frage, zeigt sich oft ein Flüchtlingshintergrund aus dem 2.ten Weltkrieg. Nicht immer, aber eben oft. Klar ist: keine Familiengeschichte gleicht 1:1 der anderen. Aber sie ähneln einander in bestimmten Bereichen. Und das Thema „Aus dem Weg gehen und sich schuldig fühlen, wenn man den Weg einfordert“ ist definitiv einer dieser Bereiche.

Und jetzt? … Vorwärts in die Vergangenheit!

Es gilt, einen Blick in die Vergangenheit zu werfen und sie in Bezug zur heutigen Situation zu setzen. Warum habe ich immer ein Schuld-Gefühl, wenn ich mir den Weg nehme? Warum glaube ich immer, der andere muss doch erkennen, dass wir irgendwie auf Kollisionskurs sind? Oder er mir auf meinem Weg im wahrsten Sinne des Wortes „im Weg steht“. Was war früher und wie wirkt sich das bis heute hin aus? Obwohl der Krieg doch schon über 70 Jahre vorbei ist? Wenn wir das erarbeiten und aufdecken, dann löst sich vieles von selbst. Sogar Lebensthemen, die du mit dem „kleinen Alltagsärger“ gar nicht in Bezug gebracht hast. Mein Motto: Erkenntnisse klären, Handeln verändert!

PS – Postskriptum

Und was triggert dich so an?

Und wenn du dich umdrehst und in die Vergangenheit schaust – wo könnte der eigentliche Triggerpunkt „begraben“ liegen?

Denk‘ mal drüber nach!