Betreff: Morddrohungen wegen Expertentum

Sehr geehrter – lieber – Prof. Christian Drosten,

gestern habe ich in der Frankfurter Rundschau gelesen, dass Sie Morddrohungen erhalten. Über diese perfiden, bösartigen Handlungen Ihnen gegenüber, bin ich vollkommen entsetzt.

Sie sind Wissenschaftler. Sie werden von Politik und Medien nach Ihrer Meinung und Expertise gefragt. Und Sie geben Antworten. Klare Antworten. Antworten, die keinerlei manipulative Motivation erkennen lassen. Sie geben Antworten aus Sicht des Wissenschaftlers. Und zwar eines Wissenschaftlers, der keinesfalls bis vor wenigen Wochen in einer abgekapselten Welt gelebt hat. Sie geben Antworten mit Weitsicht, Umsicht und mit Kenntnissen der Weltzusammenhänge. Und Sie markieren auch immer klar, was Ihre Expertise ist. Und was nicht.

Es gibt einen für mich erkennbaren Grund, warum Sie in die Wissenschaft gegangen sind. Es sind Forschung, Erkenntnisgewinne, Zahlen, Daten und Fakten, die Sie antreiben. Und die Gesundheit der Menschheit. Nicht mehr. Und nicht weniger.

Als Sie 1994 Ihr Studium der Humanmedizin begonnen haben, haben Sie nicht mal annähernd daran gedacht, wie präsent Sie 26 Jahre später in der Öffentlichkeit stehen und welch‘ bedeutsame Expertenrolle Sie einnehmen werden. Und ich bin mir sicher, Sie haben mit keinem einzigen Gedanke auch nur in Erwägung gezogen, dass Sie dafür Morddrohungen erhalten würden. Total absurd! Menschlich perfide! Ich bin froh, dass diese Drohungen Ihnen nicht den Schlaf rauben. Und das gilt hoffentlich auch für Ihre kleine Familie! Mir persönlich würden solche Drohungen sehr viel Angst machen. Und ich wünsche mir, dass die Menschen, die solche Drohungen aussprechen, zur Rechenschaft gezogen werden.

Wir Psychologen schauen übrigens auch aus unserer psychologischen Expertenrolle heraus auf das, was da gerade passiert. Derzeit wimmelt es ja nur so von „selbsternannten Experten“, die von sich glauben, sie wüssten Bescheid. Wir Psychologen verwenden dafür den Ausdruck *Die sich selbst ignorierende Inkompetenz*. Diese finden wir oft bei Menschen, die in der Regel eine gute bzw. sogar sehr hohe Kompetenz haben – allerdings in ganz anderen Bereichen.

In meinem Buch schreibe ich folgende Sätze: “ … Intelligenz schützt vor Dummheit nicht! … Damit wir auf dem Feld der Inkompetenz so richtig glänzen können, braucht es ein gewisses Maß an Grundwissen. Trifft dieses Grundwissen dann auf eine entsprechende, persönliche Erfahrung, so glauben wir, wir wüssten über alles Bescheid …. “ (Köhler, 2016)

Wissenschaftlich ist dieses Phänomen schon seit Jahrzehnten gut untersucht. Es handelt sich um den sogenannten Dunning-Kruger-Effekt.

  1. Menschen, die inkompetent sind, neigen dazu ihr Können zu überschätzen.
  2. Menschen, die inkompetent sind, können das Ausmaß ihrer Inkompetenz nicht erkennen.
  3. Menschen, die nicht wissen, dass sie inkompetent sind, können daran nichts ändern. Eben weil sie nicht wissen, dass sie inkompetent sind.
  4. Menschen, die inkompetent sind, unterschätzen oft die Fähigkeiten von kompetenten Menschen.

Und „ja“ – ich bin mir sicher, dass es jetzt irgend jemanden gibt, der mich und mein Hinweis auf „Dunning-Kruger“ kritisiert…. Wobei wir aber dann genau beim Thema wären…

Lieber Herr Drosten:
ich und viele Menschen in Deutschland, Europa und auf der ganzen Welt sind Ihnen von Herzen dankbar. Sie erklären uns die Corona-Welt. Mit klaren und verständlichen Worten. Ohne Effekt-Hascherei. Ohne moralischen Zeigefinger. Ich bin froh, dass unsere Regierung Experten wie Sie zu Rate ziehen. Sie – lieber Herr Drosten – würden sich niemals zu einer Aussage hinreißen lassen, zu der Sie nicht stehen. Von der Sie nicht überzeugt sind.

Neulich haben Sie selbst gesagt, wie sehr Sie inzwischen die wirtschaftliche Einflussnahme und den daraus resultierenden Druck auf politische Entscheidungen spüren. Im „Reinraum“ würden Sie anders entscheiden und handeln wollen, aber im Sinne von Kurt Lewins „das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile“ anerkennen Sie die sich widerstrebenden Motivationen und Interessen unterschiedlicher Gruppen. Und positionieren sich glaubhaft und klug in diesem Gerangel. Ihre Worte sind voller Bedacht und gleichsam voller Aussagekraft. Ihre Worte machen Sie nicht zum Spielball dieser Gruppen. Sie sind für mich ein wahrhaftiger Experte.

DANKE, lieber Herr Drosten – DANKE!
Lassen Sie sich bitte nicht von Morddrohungen einschüchtern.
Bleiben Sie gesund! Fühlen Sie den DANK des Großteils der Bevölkerung.

Ihre Tanja Köhler

 

 

PS – Postskriptum

Seit 50 Tagen spielen viele Musiker jeden Abend um 18.00 Uhr das ‚Lied der Verbundenheit‚. Heute möchten wir unser tägliches „Amazing Grace“ für alle wirklichen – wahrhaftigen – Experten spielen, die ihre Expertise mit uns teilen und kluge – bedachte – Ratgeber der Regierung sind. Experten können dabei durchaus unterschiedliche Ansichten sein. Ein Experte zeichnet sich für mich übrigens auch dadurch aus, dass er respektvoll spricht und die Expertise eines anderen nicht mit unflätigen Worten abwertet. Wer jetzt mag, der höre den Drosten-Podcast. Wenn Herr Drosten einer anderer Meinung als ein anderer Experte ist, dann sagt er das auch so „Ich bin da anderer Meinung…“ Und jetzt dürft Ihr Euch alle selbst eine Meinung bilden über die Experten da draußen und über die wahrhaftigen Experten…

Denkt mal drüber nach …

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